30 – 60 – 30

Nein, dass sind nicht etwa die Maße von Justitia, der römischen Göttin der Gerechtigkeit. Diese Zahlen kennzeichnen den Inhalt eines gerichtlichen Verfahrens vor dem Berliner Sozialgericht, welches ich am 16.08.2018 besuchte.

An der Einlasskontrolle des Sozialgerichts ging es für mich heute eher entspannt zu. Nicht so bei meiner Vorgängerin, welche ebenfalls die gleiche Veranstaltung wie ich besuchen wollte. Diese war mit einem Rollkoffer angereist, in dem sich einige Plakate mit politischen Aussagen befanden. Die Plakate musste sie in Verwahrung geben. Aber auch außen auf dem Koffer waren Ganzflächige Bilder mit politischen Aussagen, wie: „Sanktionen sind ANGEKLAGT vor dem Bundesverfassungsgericht“ angebracht. Den Koffer mochten die Justizbeamten nicht auch noch in Verwahrung nehmen und forderten die Besitzerin auf, die Bilder vom Koffer zu entfernen, damit diese den Koffer mit ins Gerichtsgebäude nehmen kann. Dieses verweigerte die Besitzerin. Daraufhin wollte einer der Justizbeamten die Bilder höchstpersönlich vom Koffer abziehen. Das misslang ihm aber angesichts der Gegenwehr der Eigentümerin gründlich. Schließlich bot sie dem Wachtmeister daraufhin eine Strafanzeige wegen Sachbeschädigung an. Der Beamte verfügte nun, dass ihr mit dem Koffer in besagtem bebilderten Zustand kein Einlass ins Gerichtsgebäude gewährt wird und sie den Koffer im Eingangsbereich stehen lassen könne. Da der Justizbeamte der Dame aber auch keine Garantie der Beaufsichtigung des Koffers während ihres Veranstaltungsbesuchs geben konnte, war dies für die Eigentümerin auch keine Alternative. Inzwischen war wohl so etwas wie ein kleiner Alarm ausgelöst worden. Jedenfalls eilten plötzlich emsig aus diversen Türen einige Justizwachtmeister zur Unterstützung des offensichtlich überforderten Kollegen heran. Um die Verhandlung dennoch rechtzeitig besuchen zu können klebte die Besitzerin einen Zettel mit ihrem Namen an ihren Koffer und lies diesen bebildert im Eingangsbereich des Sozialgerichts stehen. In der Hoffnung, niemand würde gefallen daran finden und diesen mitnehmen.

Ich bin inzwischen am Ort des heutigen Geschehens, dem Saal 235. Hier geht es um 11.30 Uhr im Verfahren S 156 AS 3277/14 vor der 156. Kammer um eine vom Jobcenter Berlin Pankow im Jahr 2013 verhängte 30%-Sanktion, welche eigentlich eine 60%-Sanktion hätte sein müssen.

Die Protagonisten der Veranstaltung sind neben dem Kläger P. die Vorsitzende Richterin am Sozialgericht Frau K. und deren beiden Satelliten, die ehrenamtliche Richterin Frau T. und der ehrenamtliche Richter Herr M. Die Rechtsstelle des Jobcenters Pankow ist vertreten durch Frau R. Außerdem sind fünf Vertreter der interessierten Öffentlichkeit anbei, sowie zwei undefinierbare Zuschauer und – natürlich – wieder zwei Vertreter der Justizwachtmeisterei.

Die Vorsitzende eröffnet nun die Verhandlung. Fragen zur Generalterminsvollmacht von Frau R. bleiben heute außen vor. So geht die recht junge Vorsitzende sogleich zur Erläuterung des Sachverhalts über. Im hiesigen Klageverfahren geht es um eine Leistungsminderung des Klägers P. in Höhe von 30 Prozent seines Regelsatzes von Arbeitslosengeld II für einen Zeitraum von drei Monaten. Dieser erhielt mit Datum vom 12.12.2013 einen entsprechenden Minderungsbescheid des Jobcenters, wogegen dieser dann Widerspruch einlegte und Klage einreichte. Ursprünglich war ein Eingliederungsverwaltungsakt des Jobcenters Pankow vom 03.07.2013 gewesen. In diesem Eingliederungsbefehl waren dem Kläger P. drei Bewerbungsbemühungen pro Monat auferlegt worden. Diesem Zwangsersuchen kam Herr P. nach Meinung des Jobcenters nicht nach. Daher musste Strafe her.

Nachdem der Kläger P. das Wort erhält, bemängelt dieser, dass hier eigentlich eine 60%-Sanktion hätte ergehen müssen und richtet die Frage, warum nur eine 30%-Sanktion ergangen ist an die Vertreterin des Jobcenters und an die Vorsitzende.

Frau R. aus dem Hause des Jobcenters entgegnet kurz, dass der Beklagte von einer höheren Sanktion absehen kann. Davon wurde hier Gebrauch gemacht.

Die Vorsitzende will auf die Frage nicht näher eingehen, mit der süffisanten Begründung, sie möchte nicht ihre beiden zivilen Semi-Richter in deren Urteilsfindung beeinflussen. Frau K. verweist noch darauf, dass es keine höchstrichterliche Rechtsprechung zur Thematik gibt.

Der Kläger bittet nun die Vorsitzende darum, ins Protokoll aufzunehmen, warum der vom Gesetz vorgegebene Sanktionsspielraum durch den Beklagten nicht ausgeschöpft wurde.

Die Vertreterin des Jobcenters verweist auf den Inhalt des vormalig ergangenen Gerichtsbescheids der 156. Kammer. Dabei muss allerdings angemerkt werden, dass dieser Gerichtsbescheid nichtig ist, da der Kläger diesem explizit nach § 105 SGG (Sozialgerichtsgesetz) widersprochen hat und gleichzeitig mündliche Verhandlung beantragt hat, die hier nun zwingend statt findet.

Der Kläger P. reicht nun der Vorsitzenden einen Ausdruck, in dem eine Normenkontrolle einer 60%-Sanktion vor dem Bundesverfassungsgericht (1 BvL 7/16) nach Artikel 101 GG (Grundgesetz) behandelt wird und beantrag in Anlehnung daran eine Aussetzung des hiesigen sachgleichen Verfahrens nach § 114 SGB II (Zweites Buch Sozialgesetzbuch) bis zur Entscheidung des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht.

Die Vorsitzende Richterin K. sieht keine Notwendigkeit der Aussetzung des hiesigen Verfahrens und teilt dies dem Kläger mit.

Kläger P. möchte die Aussage der Vorsitzenden ins Protokoll aufgenommen wissen.

Die Vorsitzende erwähnt nun auf Nachfrage des Klägers, dass der frühere Vorsitzende Richter dieser Kammer, Herr Dr. N. (es fand ein mehrfacher Wechsel der Vorsitzenden statt) der Klage eine Aussicht auf Erfolg attestierte und später im ergangenen Gerichtsbescheid sollte die Klage dann abgewiesen werden. Diese unterschiedlichen Rechtsauffassungen verwirren alle Beteiligten offensichtlich ein wenig, werden aber von der Vorsitzenden nicht weiter erläutert und bleiben daher Geheimsache.

Der Kläger P. stell nun für den Fall der Abweisung seines Hauptantrags, der Aussetzung des Verfahrens den hilfsweisen Antrag, den vorliegenden Sanktionsbescheid aufzuheben.

Die Vertreterin des Jobcenters Berlin Pankow stellt den Klageantrag die Klage in allen Punkten abzuweisen.

Die Vorsitzende Richterin schließt die Verhandlung um 11.50 Uhr und entschwindet mit ihrem Gefolge ins Hinterzimmer zur Urteilsfindung.

Nach 7 Minuten erscheint das dynamische Trio wieder im Saal, um „Im Namen des Volkes“ ein Urteil zu verkünden. Sämtliche Antrage des Klägers P. werden abgelehnt und die Klage abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Berufung wird nicht zugelassen, da der Beschwerdewert unter 750,00 Euro liegt.

Der Kläger P. verweist abschließend noch darauf, dass er gegen dieses Urteil mit Nichtzulassungsbeschwerde an das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg und Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht vorgehen werde, wie er es in solchen Fällen immer zu Tun pflege.

Einer der beiden anwesenden Justizwachtmeister fordert das verbliebene Publikum nun auf, den Saal endlich zu verlassen.

Wir verlassen das heutige Schlachtfeld.

Mir drängte sich schon während der Verhandlung der Verdacht auf, dass man sich seitens des Jobcenters Berlin Pankow und der Kammer von vornherein einig war, es bei einer 30%-Sanktion zu belassen, um den Beschwerdewert niedrig zu halten, damit es erst gar nicht zu einer Berufung an das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg kommt. Rechts- und Klageweg damit sozusagen zu ende.

Aber, keine Angst liebe Freunde, so etwas kommt nur in Unrechtsstaaten vor!

Der Koffer von Frau W. war auch noch an seinem Ablageort.

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